* 22 *

22. Die Insel
Insel

Jenna, Beetle und Septimus erwachten am andern Morgen unter einem behelfsmäßigen Schutzdach aus Wärmemänteln, das sie in aller Eile neben Feuerspei errichtet hatten, als die Müdigkeit sie überfallen hatte. Sie krochen darunter hervor und setzten sich an den Strand, sogen die milde, salzige Luft ein, genossen die warme Sonne und betrachteten die Szenerie, die sich ihnen darbot. Sie war atemberaubend schön.

Der Sturm hatte die Luft gereinigt, und am strahlend blauen Himmel war kein Wölkchen zu sehen. Das tiefblaue Meer funkelte von einer Million tanzender Lichtpunkte und erfüllte die Luft mit dem leise plätschernden Auf und Ab kleiner Wellen, die den Strand heraufkrochen und dann, nass glitzernden Sand hinterlassend, wieder zurückwichen. Zu ihrer Linken zog sich ein langer, sanft geschwungener Strand hin, mit Sanddünen dahinter, die in eine erhöhte, mit Steinen übersäte Grasfläche übergingen, die wiederum an einem bewaldeten Hügel endete. Zu ihrer Rechten waren die runden Felsen, die sie bei ihrer nächtlichen Landung so knapp verfehlt hatten – und Feuer speis Gezeitentümpel.

»Ist das nicht fantastisch?«, flüsterte Jenna in die kurze Stille hinein, die immer dann eintritt, wenn die Wellen an Land gerollt sind und noch nicht wieder ins Meer zurücksinken.

»Ja...«, bestätigte Beetle verträumt.

Septimus stand auf und ging nach Feuerspei sehen. Der Drache schlief noch in einer Senke hinter den Felsen, die ihn vor der Sonne schützten. Sein Atem ging gleichmäßig, und seine Schuppen fühlten sich angenehm warm an. Septimus war erleichtert, doch das änderte sich, als er nach hinten zu dem Gezeitentümpel ging. Das Wasser im Tümpel hatte eine stumpfe rötliche Färbung angenommen, und soweit das bei dem trüben Wasser zu erkennen war, sah Feuerspeis Schwanz nicht gut aus. Er war deutlich nach unten abgeknickt, und der Widerhaken ruhte auf dem sandigen Grund. Das stimmte Septimus besorgt – Feuerspei trug die Schwanzspitze immer hoch, und aufgrund der natürlichen Krümmung des Schwanzes hätte der Widerhaken normalerweise aus dem Wasser ragen müssen und nicht schlaff und leblos daliegen dürfen. Mit Schrecken begriff Septimus, dass der Schwanz gebrochen war.

Aber noch schlimmer war, dass der Teil des Schwanzes hinter der Bruchstelle – oder der »distale Teil«, wie Marcellus ihn genannt hätte – eine ungesunde Farbe angenommen hatte. Die Schuppen hatten sich dunkelgrün verfärbt und ihren schillernden Glanz verloren, und der Widerhaken war, soweit er das von außerhalb des Wassers erkennen konnte, beinahe schwarz. Splitter abgestorbener Drachenschuppen trieben auf der Wasseroberfläche, und als Septimus sich auf den Felsen legte und vorbeugte, um besser sehen zu können, bemerkte er, dass der ganze Tümpel einen leichten Verwesungsgeruch verströmte. Es musste etwas geschehen.

Jenna und Beetle neckten sich gerade gegenseitig, weil sich keiner von beiden ins Wasser traute, als Septimus wieder zu ihnen stieß. Er kam sich ein wenig wie Jillie Djinn vor, die eine kichernde Schar von Schreibern beim Plauschen störte, als er hinter den Felsen hervortrat und sagte: »Sein Schwanz sieht wirklich schlimm aus.«

Jenna wollte Beetle gerade einen Schubs in Richtung Wasser geben. Sie hielt jäh inne. »Schlimm?«, fragte sie. »Wie schlimm?«

»Am besten, ihr seht es euch selber an.«

Die drei standen am Rand des Gezeitentümpels und schauten bestürzt ins Wasser.

»Ist ja widerlich«, sagte Beetle.

»Ich weiß«, erwiderte Septimus. »Und wenn es noch schlimmer wird, wird er die Schwanzspitze verlieren – oder mehr. Wir müssen schleunigst etwas unternehmen.«

»Du bist der Fachmann, Sep«, sagte Beetle. »Sag uns, was wir tun sollen, und wir tun es. Stimmt’s, Jenna?«

Jenna nickte, entsetzt über das schmutzig aussehende Wasser.

Septimus setzte sich auf einen Felsen und blickte nachdenklich in den Tümpel. Nach einer Weile sagte er: »Meines Erachtens sollten wir Folgendes tun: Zuerst sammeln wir etwas Seegras und suchen ein langes gerades Stück Holz. Dann – und das wird kein Vergnügen – steigen wir in den Tümpel und heben den Schwanz heraus. Damit ich ihn mir genauer ansehen kann. Außerdem muss ich ihn von diesem ekligen Zeug säubern, was Feuerspei sicher nicht gefallen wird. Deshalb müsst ihr vorn bei seinem Kopf bleiben und ihm gut zureden. Ich werde Seegras auf die Wunde legen, denn da sind viele heilsame Wirkstoffe drin. Wenn der Schwanz gebrochen ist, und das ist er mit ziemlicher Sicherheit, werden wir ihn schienen müssen – also mit einem Stück Holz zusammenbinden, damit er ihn nicht bewegen kann. Und dann können wird nur noch hoffen, dass er heilt und dass er nicht...« Septimus verstummte.

»Dass er nicht was, Sep?«, fragte Beetle.

»Abfällt.«

Jenna schnappte nach Luft.

»Noch schlimmer wäre es, wenn er die, wie Marcellus sie nannte, ›stinkende tödliche Schwarzfäule‹ bekommt.«

»Stinkende tödliche Schwarzfäule?«, fragte Beetle beeindruckt. »Was ist das denn?«

»Ziemlich genau das, wonach es sich anhört. Der Schwanz wird ganz...«

»Sei still«, rief Jenna. »Ich will es gar nicht wissen.«

»Hör zu, Sep«, schlug Beetle vor, »du erklärst uns, was wir tun sollen, und wir werden es tun. Feuerspei wird schon wieder gesund, du wirst sehen.«

Zwei Stunden später saßen Jenna, Beetle und Septimus klatschnass und erschöpft in der Wiese oberhalb der Felsen. Unter ihnen lag ein Drache, dessen Schwanz höchst merkwürdig aussah. Beetle fand, dass er wie eine Schlange aussah, die einen Felsblock verschluckt hatte, mit dem zusätzlichen Reiz, dass jemand um die Ausbeulung, wo der Felsblock war, ein breites rotes Tuch gewickelt und mit einer Schleife zugebunden hatte.

»Das ist keine Schleife«, protestierte Septimus.

»Na schön, dann eben ein dicker Knoten«, räumte Beetle ein.

»Ich musste dafür sorgen, dass die Wärmemäntel nicht verrutschen. Ich möchte nicht, dass Sand in die Wunde gelangt.«

»Feuerspei hat sich tapfer gehalten, findest du nicht?«, sagte Jenna.

»Ja«, stimmte Septimus zu. »Er ist ein guter Drache. Er hört, wenn er weiß, dass es ernst ist.«

»Glaubst du denn immer noch, dass es ernst ist?«, wollte Beetle wissen.

Septimus zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich habe mein Möglichstes getan. Auf jeden Fall sieht es viel besser aus, seit ich die ganze Pampe entfernt habe, und...«

»Würde es dir etwas ausmachen, nicht von Pampe zu reden, Sep?«, fragte Jenna, die ganz käsig im Gesicht war. Sie stand auf und atmete tief durch. »Also, wenn man schon irgendwo ein paar Wochen festsitzt, dann hier. Ich könnte mir schlimmere Gegenden vorstellen. Hier ist es herrlich.«

»Ich nehme an, wir sitzen so lange hier fest, bis es Feuerspei besser geht«, sagte Beetle. Die erstaunliche Aussicht, zusammen mit Prinzessin Jenna – und Sep, natürlich – an einem so schönen Ort lange, faule Wochen zu verbringen, versetzte ihn in Begeisterung. Er konnte sein Glück kaum fassen.

Jenna war unruhig. »Wie wär’s mit einem kleinen Erkundungsgang?«, fragte sie. »Wir könnten am Strand entlanggehen und nachsehen, was hinter den Felsen da hinten ist.« Sie deutete auf eine Felsnase, welche die Bucht auf der linken Seite begrenzte.

Beetle sprang auf. »Gute Idee. Kommst du mit, Sep?«

Septimus schüttelte den Kopf. »Ich bleibe hier bei Feuerspei. Ich möchte ihn jetzt nicht allein lassen. Aber geht ihr nur.«

Jenna und Beetle ließen Septimus bei dem Drachen sitzen, stapften zum Strand hinunter und wanderten an dem Streifen aus Seegras, Treibholz und Muscheln entlang, den der Sturm angespült hatte.

»Weißt du eigentlich noch irgendwas über die geheime Geschichte der Inseln?« Beetle hob eine große stachelige Muschelschale auf und hielt sie hoch, um nachzusehen, was darin war. »Zum Beispiel, ob hier jemand lebt.«

»Keine Ahnung.« Jenna lachte. »Ich glaube, du musst sie schütteln und dann warten, was herauskommt.«

»Wie? Ach so, lustig. Ich glaube, ich möchte gar nicht wissen, was da drin lebt. Ich wette, es ist groß und stachelig.« Beetle setzte die Schale in den Sand zurück, und heraus krabbelte eine kleine Krabbe.

»Um ehrlich zu sein, habe ich schon heute Morgen darüber nachgedacht, vor der ekligen Geschichte mit dem Schwanz«, sagte Jenna und stakste vorsichtig durch das herumliegende Seegras zu dem festeren Sand weiter unten. »Aber ich weiß nicht, ob hier jemand lebt. Ich erinnere mich jetzt wieder – ich habe nur den ersten Teil des Kapitels über die Inseln gelesen. Das war, als die Geschichte mit den Spiegeln passiert ist und wir Nicko verloren haben ... Und als ich dann wieder nach Hause kam, war meine Hauslehrerin sauer, weil ich so viel versäumt hatte, und ich musste gleich mit dem neuen Stoff anfangen, deshalb habe ich es nie zu Ende gelesen. Ärgerlich!« Jenna trat gereizt nach einem Seegrasbüschel. »Ich weiß nur noch, dass es sieben Inseln sind, die früher mal eine große, zusammenhängende Insel waren, später aber auseinanderbrachen, als das Meer sie überflutete und alle Täler unter Wasser setzte. Aber es muss hier irgendeine Art Geheimnis geben, denn das Kapitel hieß ›Das Geheimnis der sieben Inseln‹. Ist doch wirklich ärgerlich. Ich muss so viel langweiliges Zeug lesen, und das Einzige, was ich jetzt gebrauchen könnte, habe ich nicht lesen dürfen. Das ist mal wieder typisch.«

»Dann müssen wir eben selbst herausfinden, was es mit diesem Geheimnis auf sich hat.« Beetle grinste.

»Wahrscheinlich ist es stinklangweilig«, sagte Jenna. »Das sind die meisten Geheimnisse, wenn man sie erst mal kennt.«

»Nicht alle«, widersprach Beetle und folgte ihr durch das Seegras hinunter ans Wasser. »Einige Geheimnisse des Manuskriptoriums sind unglaublich interessant. Aber natürlich darf ich – oder vielmehr, durfte ich – mit keinem Menschen darüber sprechen. Na ja, eigentlich darf ich es immer noch nicht, niemals.«

»Dann bleiben sie Geheimnisse, und das bedeutet, dass sie immer noch interessant sind. Wie auch immer, jedenfalls magst du solche Sachen, Beetle – du bist intelligent. Mich langweilen sie.« Sie lachte. »Wer schneller ist.«

Beetle rannte ihr nach. »Juhu!«, rief er. Jenna hielt ihn für intelligent – Wahnsinn!

Septimus saß auf einem warmen Felsen und lehnte am kühlen Hals Feuerspeis, der friedlich schlief. Der Atem eines schlafenden Drachen hatte etwas sehr Beruhigendes, besonders an einem einsamen weißen Sandstrand mit einem stillen blauen Meer dahinter. Das einzige Geräusch, das Septimus nun, da Jenna und Beetle hinter den Felsen am anderen Ende der Bucht verschwunden waren, hören konnte, war das sanfte Rauschen der Wellen, das nur gelegentlich von einem näselnden Schnarchen Feuerspeis unterbrochen wurde. Die Müdigkeit der letzten Woche begann Septimus einzuholen. Eingelullt von der warmen Sonne, schloss er die Augen und ließ seine Gedanken schweifen.

»Septimus ...« Eine Mädchenstimme, hell und melodisch, drang durch den Schleier seiner Benommenheit. »Septimus ...«, rief sie leise. »Septimus ...« Er rührte sich, öffnete die Augen halb, blickte auf den leeren Strand und gestattete seinen Augen dann, wieder zuzufallen.

»Septimus, Septimus.«

»Geh weg, Jenna«, murmelte er. »Ich schlafe.«

»Septimus...«

Seine trüben Augen gingen auf und wieder zu. Da war niemand, sagte er sich. Er träumte nur...

Ein schlankes, grün gekleidetes Mädchen stand in den Dünen oberhalb der Felsen und schaute auf den Drachen und den Jungen hinab. Dann rutschte es die Dünen hinunter und huschte lautlos zu einem warmen, flachen Felsen, setzte sich hin und sah zu, wie Septimus erschöpft in der Sonne schlief.

Septimus Heap 05 - Syren
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